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Ich habe das Potenzial wiedergefunden

Eine zentrale Rolle im prozessphilosophischen Denken spielt der Begriff des Implizierens. Das Implizieren lässt sich als eine Art von Potenzial verstehen, das jedem Prozess für seine eigene Fortsetzung innewohnt. Dabei ist es unerheblich, ob wir über Denkprozesse, Beziehungsverläufe von Paaren, persönliche Entwicklungsprozesse oder über Veränderungen in einem Ökosystem nachdenken. Jeglicher Prozess hat die Eigenschaft, dass er sich auf die ein oder andere Art fortsetzt. Sonst wäre er gar kein Prozess.

Die spannende Frage dabei ist, auf welche Weise Prozesse sich fortsetzen. Manche Fortsetzungen sind förderlich, manche eher weniger. Und manchmal stockt das Ganze auch. Das Potenzial für die Fortsetzung fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Denn hier liegt gewissermaßen der Keimling für das, was möglich ist. Das ist nicht nur interessant für die Psychotherapie, sondern für alles, was mit schöpferischem Handeln, mit Kreativität und überhaupt, mit Leben zu tun hat.

In einem früheren Eintrag hatte ich schon einmal versucht, das Potenzial einer echten Begegnung in einem  Gespräch in meinen eigenen Worten zu umkreisen. Dabei habe ich Bezug genommen auf meine Ideen zu gelingender Kommunikation (auch Kommunikation kann als Prozess gesehen werden). Die Formulierung, die ich damals gefunden hatte, war: “Das Potenzial ist der Sinn, der zwischen den Worten aufscheint und die Stille, die zu sprechen beginnt, wenn das Sprechen ganz leise wird.”

Dies ist eine poetische Umschreibung für das Implizieren – ich glaube, sie macht spürbar, was ich meine. Dennoch ist damit ist noch nicht viel gesagt. Das Implizieren, das Potenzial eines Prozesses, blieb mir nach wie vor ein Rätsel.

Was ich derzeit von Gendlin lerne, ist, dass das Potenzial besonders dann “sichtbar” wird, wenn Prozesse gestoppt sind:

Wenn das nächste Geschehen es nicht unmittelbar in einer Weise ändert, in der es sich verändert
impliziert, begegnen wir dem Implizieren »…..« als solchem (getragen von anderen Geschehnissen).
(Gendlin, “Ein Prozess-Modell”, S. 69)

Das ist eingängig und verständlich für mich. Klar, ein gestoppter Prozess kann sich manchmal eben nicht fortsetzen. Dann spüren wir das, was eigentlich als nächster Prozessschritt impliziert wäre, eben deshalb besonders deutlich, weil es nicht geschieht. Auch darüber habe ich schon einmal einen Eintrag geschrieben – über ein Theaterstück, das von Flüchtlingen in einer Würzburger Asylunterkunft gespielt wurde. Als ich mit diesen Menschen mitfühlte, die ihre persönlichen Geschichten auf der Bühne darstellten, habe ich intuitiv verstanden, wie das Potenzial in einer gestoppten Situation plötzlich “kreativ wird”. Wenn ein Prozess gestoppt ist, sucht sein Potenzial gewissermaßen “aus sich selbst heraus” nach neuen, unkonventionellen Schritten, die weiter in Richtung Leben führen.

Dennoch – auch damit war noch nicht alles gesagt. Je länger ich darüber nachdachte, desto rätselhafter wurde mir dieses merkwürdige Potenzial. Es war einfach nicht greifbar. Es verschwand, es entzog sich mir immer mehr. Am Ende blieb nur noch so etwas wie ein geheimnisvolles Etwas übrig, das irgendwie wirkt, das wir aber sowieso nicht mit Worten beschreiben können. Ein Nichts, sozusagen, das alles bewirkt. Irgendwie machte mich diese Vorstellung sehr unzufrieden. Wie kann es denn sein, dass wir über so etwas Mächtiges, wie die Kraft, die Menschen dazu bewegt, aus dem Gewohnten auszubrechen, nicht sprechen können? Sie ist doch etwas so Zentrales im Leben eines jeden von uns, dass gerade darum unsere gesamte Aufmerksamkeit kreisen müsste.

Gestern nun las ich einen Abschnitt im Prozessmodell, in dem Gendlin deutlich macht, dass Stoff und Prozess dasselbe sind. Das ist eine einigermaßen ungewohnte Vorstellung für Menschen, die in einer westlichen Kultur aufgewachsen sind. Stoff ist zuerst da, so denken wir normalerweise, und die einzelnen Stoff-Teilchen treten dann nachträglich in Interaktion und kreieren damit Prozesse. In der Prozessphilosophie gibt es dieses “zuerst Teilchen – dann Prozess” nicht. Prozess ist selbst von Anfang an schon Stoff und Stoff ist Prozess. Je länger ich darüber nachdenke, desto eingängiger wird mir diese Prozess-Sicht. Materie ist selbst schon Prozess und damit auch Potenzial für das, was sich fortsetzt. Klar, das weiß doch sogar die moderne Physik: Die Vorstellung von Atomen als unteilbaren, unhintergehbaren kleinsten Einheiten ist in vielen Theorien schon längst überholt. Die Quantenmechanik beispielsweise liefert für Prozesse exakte mathematische Beschreibungen (zur Vertiefung siehe auch A Critique of Relativity and Localization, Gendlin und Lemke, 1983).

Als ich diese Formel Stoff = Prozess in mir bewegte, wurde mir plötzlich deutlich: Ah! Moment mal – da ist es ja. Das Implizieren. Da ist es wieder. Wenn es keinen Stoff gibt, der unabhängig vom Prozess ist, dann ist der Stoff selbst das Implizieren. Der Körper ist das Implizieren, ganz einfach. Selbst wenn wir nicht darüber reden können, selbst, wenn wir das Potenzial mit Worten immer nur umkreisen können, um darauf hinzudeuten (so wie man einen Stern nicht direkt anschauen darf, um zu sehen) – das Potenzial ist trotzdem immer da. Stofflich. Körperlich. Ohne groß Worte darum zu machen.

Es ist mir so innig vertraut, dass ich es vollkommen aus den Augen verloren habe. Mein eigener Körper, in all seinen fühlbaren inneren Zuständen, das, was ich jetzt, in diesem Augenblick gerade körperlich bin, das ist es schon. Das, und nicht viel mehr als das. Völlig unspektakulär. Das ist das Potenzial, das Implizieren, das mit einem Male gar nicht mehr so geheimnisvoll scheint. Klar, ich spüre doch körperlich die Möglichkeiten, die sich mir bieten, als vielleicht nicht so ohne Weiteres benennbare, aber dennoch sehr präzise Empfindung: Das, was mir möglich ist, das Potenzial für mein zukünftiges Handeln, ist ein “intuitives” körperliches Erleben.

Da sucht man monatelang nach etwas, und je länger man danach sucht, desto weiter rückt es in die Ferne, bis irgendwann nicht mehr als ein geheimnisvoller Schimmer übrig bleibt. Merkwürdig ist das. Ich war tatsächlich mein eigener blinder Fleck.

 

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2 Comments

  1. Roman May Roman May 22. Oktober 2017

    Treffen sich ein potenzieller Serienmörder und ein Körper.”Guten Morgen.””Es gefällt mir nicht, was sie hier implizieren.”antwortet der Körper.

  2. Tony Tony 22. Oktober 2017

    Ja, genau. 🙂 Siehst Du, Roman, sag ich doch. Spannend ist, auf welche Weise sich so ein Prozess fortsetzt. 🙂

    Liebe Grüße

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