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Bedürfnisse, Eigenzeit und Nachhaltigkeit – und wie ihnen die Uhrzeit entgegensteht.

Ich lese gerade in Eine Landkarte der Zeit von Robert Levine. Sehr schnell wird mir durch dieses Buch deutlich: Zeit ist etwas Virtuelles und Abstraktes. Zumindest die Uhrzeit, also die Zeit, die wir mit der Uhr messen. Natürlich ist dies keine besonders neue Information. Sie ist so abstrakt wie alles, was mit Zahlen zu tun hat. Machen wir uns aber mal bewusst, was das eigentlich im täglichen Leben bedeutet, so ergeben sich vielerlei Konsequenzen, die unser Tun, Denken und Erleben bestimmen und deren wir uns nicht unbedingt bewusst sind. Drei der wichtigsten Punkte möchte ich kurz verdeutlichen:

1. Zeitkategorien sind oft wichtiger als Bedürfnisse
Zunächst einmal bringt uns vieles, was abstrakt ist, weg von dem, was wir spüren. Abstraktion geschieht im Denken, und wenn wir Zeit denken, dann meinen wir damit die in unserem Kulturkreis geläufige Einteilung nach Stunden, Minuten, Tagen und so weiter. Dem prozesshaften Erleben, das uns von innen her lenkt, steht eine standardisierte Struktur gegenüber. Woran orientieren wir uns? An unseren Bedürfnissen oder an den abstrakten Zahlen auf einer Digitalanzeige? Am deutlichsten bemerken wir, dass es einen Unterschied zwischen beidem gibt, wenn unser Erleben und die abstrakte Uhr-Zeit nicht miteinander in Einklang stehen. Wie oft kommt es vor, dass Sie Hunger haben, aber nicht essen können, weil sie sich noch in der abstrakten Kategorie “Arbeitszeit” befinden? Oder dass Sie noch schlafen wollen, aber aufstehen, weil der Wecker klingelt und Ihnen sagt, dass die Kategorie “Vormittag” begonnen hat? Das, was wir eigentlich brauchen, wird oft hinausgeschoben, getaktet und manchmal sogar verhindert von der kategorialen Zeitstruktur, in der wir leben.

2. Die Zeiteinteilung soll uns effizienter machen
Dem abstrakten System, das die Uhr-Zeit über unseren Köpfen errichtet, wohnt ein Machtaspekt inne. Als vor 150 Jahren die Uhren technisch soweit perfektioniert worden waren, dass man sich einigermaßen sicher und genau daran orientieren konnte, begannen Fabrikbesitzer, die Arbeitsschritte ihrer Angestellten und Arbeiter in kleinste Zeiteinheiten einzuteilen. Der Ingenieur F. W. Taylor arbeitete diese Methode bis ins letzte Detail aus. Robert Levine beschreibt, welch groteske Formen dies annahm (S. 110):

Bewegungs-Zeitstudien sind auf nahezu jede Arbeitsumgebung angewandt worden. Selbst die kleinsten Aufgaben sollten eine Standardzeit bekommen. Eine Liste der Systems and Procedures Association of America schlägt zum Beispiel Zielzeiten für Aktivitäten wie diese vor: Aktenschublade, öffnen und schließen, keine Auswahl = 0,04 Minuten; mittlere Schublade schließen = 0,027 Minuten; Seitenschublade des Standardschreibtisches schließen = 0,015 Minuten […]. Durch den Taylorismus erreichten der Wert der Effizienz und die Bedeutung der Uhrzeit eine ganz neue Stufe.

Auch, wenn heutzutage in vielen Berufen niemand (mehr) mit der Stoppuhr neben uns steht, ist uns die Haltung, die durch Taylors Ideen entstand, in Fleisch und Blut übergegangen. Wir passen uns oft genug an die Erfordernisse einer standardisierten Welt an, anstatt die Welt selbst zu gestalten. Wie oft sind wir wirklich entspannt in dem, was wir tun? Wie oft achten wir unsere Eigenzeit? In der sogenannten Freizeit mag dies vielleicht der Fall sein, doch wenn es um Berufliches geht, ist Effizienz eines der obersten Gebote.

3. Zeit ist an Ressourcen gekoppelt
Damit sind wir auch schon beim dritten Punkt, denn wir alle leben, wenn wir uns um berufliche Dinge kümmern, mehr oder minder in einer Haltung, die sagt: Zeit ist Geld. Die meisten von uns werden nämlich bezahlt nach einem abstrakten Prinzip, das wir “Stundenlohn” nennen. Auch dies ist uns so selbstverständlich, als sei es schon immer so gewesen. Und doch ist es in vielen Bereichen eigentlich absurd, wenn man mal genauer darüber nachdenkt. Was zählt, ist oftmals eben nicht die Qualität der Resultate, sondern einfach nur die abgeleistete Zeit, die man abgerechnen kann.  Wenn mein Urgroßvater, ein Bauer, beim Schmied in seinem Dorf ein Hufeisen kaufte, das nichts taugte, gab er ihm auch nicht viel Geld dafür. Heutzutage würde er eine Rechnung mit soundsovielen angefangenen Viertelstundeneinheiten bekommen, und hätte (erstmal) keine Wahl, ob er bezahlen will oder nicht. Zwar würde er beim nächsten Mal einen anderen Schmied suchen, der bessere Arbeit leistet. Dennoch zeigt das Beispiel: Zeit bindet erst einmal Ressourcen, vor allem finanzieller Art – Nachhaltigkeit ist dann erstmal Nebensache.

 

All diese Dinge haben Vorteile. Das ist augenscheinlich, denn sonst wären sie im Laufe der Geschichte nicht entstanden. Auch ich bin froh, wenn eine Verabredung mit einem anderen Menschen zustande kommt, weil wir uns beide an einer standardisierten Uhrzeit orientieren können. Abschaffen sollten wir das Zeitsystem also nicht.

Dennoch glaube ich, es ist, wie bei so vielen Dingen, auch hier sinnvoll, mal ganz weit zurück zu treten, und zu fragen: was machen wir hier eigentlich? Wie sinnvoll ist das eigentlich, was wir da tun? Wem nutzt die zeitliche Standardisierung am meisten – den Angestellten oder dem Chef? Wieso nehmen psychische Krankheiten (vor allem die Depression) in den westlichen Nationen rapide zu? Wann und wie verhindert die Art, wie wir unser Zeitsystem benutzen, dass gute Arbeit geleistet wird und damit Ressourcen verschwendet werden? Wie können wir so etwas wie bedürfnisgeleitete Eigenzeit möglich machen und was müsste man dafür ändern?

Am wichtigsten ist für mich die Vergegenwärtigung der Tatsache, dass die standardisierte Uhrzeit etwas Menschengemachtes ist. Wir haben uns das Ganze ausgedacht, also können wir es auch ändern oder zeitweilig ignorieren. An welchem Punkt ist es zu viel? An welchem Punkt hilft es mir? Der erste kleine Schritt heißt, genau zu differenzieren: An welchen Stellen passe “ich” gut in dieses zeitliche Kategoriensystem hinein und wo nicht?

 


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