What a historical event really was becomes retroactively determined
by how subsequent events develop its significance.
Gene Gendlin
Die gute alte Zeit: Für uns heute ist das die Zeit, in der, so sagen wir, es noch nicht so viele Autos gab, das Leben noch nicht so schnelllebig war. Die Menschen, so denken wir, hatten noch Zeit, ein Schwätzchen zu halten, wenn sie sich beim Bäcker trafen, schauten einander an, statt vorüber zu hasten und so weiter. Wir meinen, die Menschen seien glücklicher gewesen, es habe noch nicht so viele Probleme auf der Welt gegeben und das Leben sei früher einfacher und lebenswerter gewesen als heute.
Ich frage mich: Stimmt das wirklich? Ist dieses Empfinden von “früher war alles besser” nicht lediglich ein Artefakt unseres Lebendigseins? Kommt es nicht gerade dadurch zustande, dass wir uns sozusagen immer nur auf der Höhe unserer aktuellen Entwicklung befinden können? Wir können immer nur gerade die Probleme lösen, die anstehen. Probleme, die es früher gab, erscheinen uns weniger brisant, denn sie sind ja oftmals tatsächlich gelöst. Und im Nachhinein betrachtet vergessen wir vielleicht ein wenig, wie schwierig das damals war, wie sehr wir tatsächlich gelitten haben. Denn so ist das doch immer bei Problemen und deren Lösung: Das Leiden, das Chaos, das wirre, schreckliche Durcheinander gehört schon mit dazu, zu dem Weg, der uns die Lösung bringt. Wenn dann der entscheidende kleine Schritt da ist, der den Knoten löst (oft ist der Augenblick, in dem dies geschieht, nicht vorhersehbar), dann wird alles, was zuvor geschah, was wir fühlten, alles, was nur aus einzelnen, vielleicht wirren Details bestand, zu einem Gesamtpaket integriert. Das Chaos geht auf einmal auf, macht Sinn.
Dieses Paket erhält im Nachhinein die Aufschrift “Alles über dieses Thema”. Und in dieses Paket packen wir sowohl die (oft schwierige) Ausgangslage, die Lösungsversuche, die ja, sind wir doch mal ehrlich, oftmals eher einem Herumtasten und einem hilflosen blinden Stochern gleichen, als einer planvollen, gezielten und erfolgversprechenden Strategie. Und schließlich die Lösung selbst. Alles ist auf einmal wohl geordnet, gehört ab jetzt zu unserer Geschichte dazu, und besteht nicht mehr aus einzelnen, sperrigen und widerspenstigen Details, sondern bildet ein stimmiges Ganzes.
Und dieses Ganze fühlt sich im Nachhinein runder an als die Probleme, mit denen wir uns aktuell herumschlagen müssen. Es ist ja schließlich abgehakt. Es stört uns nicht mehr. Es blockiert uns nicht mehr. Vielleicht lachen wir sogar im Nachhinein, wenn wir darüber nachdenken, wie schwierig das alles für uns war. Damals. Als wir noch jünger waren. Und unerfahrener. Und naiver.
Die gute alte Zeit. Das ist die Zeit, in der wir naiv waren. Naiv sind wir jedoch, in gewisser Weise, immer. Bis zu unserem Tode. Es ist nur eine Frage der Perspektive. Vielleicht gibt es im menschlichen Leben so etwas wie eine grundsätzliche Tendenz, den Dingen, die wir erlebt haben, durch Integration, durch das Schnüren zu Gesamtpaketen, den Stachel zu ziehen. Das, was in der Vergangenheit ein Problem war, und jetzt gelöst ist, ist kein Problem mehr und fühlt sich in der Gegenwart grundsätzlich besser an.
Das, was ich hier beschreibe, ist etwas anderes als Verklärung, denn Verklärung verzerrt. Das, was war, wird in der Verklärung falsch dargestellt. Verklärung sagt: Wir erinnern uns nur an die positiven Seiten und vergessen alles Unangenehme. Wir engen unsere Aufmerksamkeit ein. Die Integrationstendenz jedoch, von der ich hier spreche, engt nicht ein, sondern sie erweitert. Nichts wird weggelassen, sondern all die Schwierigkeiten, die Mühen, die Hilflosigkeit gehört zu unserem Leben dazu. Aber wir sind mehr als das.
Ich frage mich: Warum machen wir das eigentlich nicht gleich von Anfang an so? Das Naive, das ich heute bin, in jedem Zeitabschnitt meines Lebens bin, ist das, was später mal dazu gehören wird, zum Gesamtpaket. Warum also nicht jetzt schon anerkennen, dass das so ist? Warum soll ich damit warten, bis später, um dann erst darauf zurück zu blicken? Das Leben ist doch jetzt schon rund, und zugleich unrund, denn es wird immer unrund sein. Und es ist doch viel schöner, das Naive und Unklare zu genießen, als mich damit herumzuärgern. Schnüren wir doch das, was bis jetzt war, jetzt schon zu einem Gesamtpaket. Und jetzt. Und immer wieder jetzt.
Ich lade Sie ein, folgenden Gedanken zuzulassen und ein wenig damit herumzuspielen: Die gute alte Zeit von morgen ist gerade jetzt. Jetzt, heute, an diesem Tag. In der Welt, in der wir leben. Mit all ihren Problemen und Ungeklärtheiten. Und Sie stecken mittendrin. Jetzt.
Wie fühlt sich dieser Gedanke an?
[…] sich die Programm-Verantwortlichen wohl gedacht, ist es ganz nett, nostalgisch ein bisschen mit den guten alten Zeiten in Kontakt zu kommen. Heile Welt und so, gerade in Zeiten des Krieges in […]