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Der “stream of things”

Bei Facebook gibt es seit Neuestem die Chronik, in der alle Ereignisse, die ein Benutzer seit seiner Geburt eingetragen hat, auf einem säuberlich-übersichtlichen Zeitstrahl abgetragen werden. Im Grunde genommen ist das nur eine konsequente Erweiterung der Funktion, die die jeweils neuesten Bilder, die man online gestellt hat, oben in einer Leiste darstellt. Dies ist bei Facebook schon seit mehr als einem Jahr möglich. Diese Funktion wiederum war eine facebookgemäße Umsetzung eines Konzeptes, das es auf Fotoseiten wie Flickr schon seit langem gibt. Flickr wirbt zur Zeit auf seiner Startseite mit dem Slogan “Erzählen Sie Ihr Leben in Fotos”. Der Imagestream, der als technische Umsetzung dieses Versprechens dort schon seit längerem implementiert ist, sieht die Fotos, die man online stellt, ebenfalls als eine Art Strom an, der sich ständig wandelt. Auch Blogs und Onlinetagebücher verfolgen einen ähnlichen Gedanken: das Leben verändert sich, also müssen sich auch die Medien ständig verändern, die Teil und Träger des Lebens sind. Sicherlich ließen sich noch weitere Beispiele finden.

Auch wenn das Internet diese Konzepte in den letzten Jahren mehr und mehr umsetzt, sind deren Grundgedanken nicht neu. Schon vor mehr als achtzig Jahren kam beispielsweise Alfred Döblin in seinem Roman Berlin Alexanderplatz auf die Idee, den Bewusstseinsstrom des Protagonisten Franz Biberkopf in Worten und Sätzen darzustellen. Der Roman erzählt also keine Handlung durch einen allwissenden Erzähler, der “von außen” auf die Figuren schaut und deren Handlungen, Gedanken und Gefühle schildert, sondern gibt das wieder, was beim Denken und Erleben der Person von selbst von Augenblick zu Augenblick aufscheint. Berlin Alexanderplatz ist also ein früher und konsequenter Vorläufer des Imagestreams, der facebook’schen Chronik, und der heutigen Blogs.

Ich frage mich, ob sich das Konzept des “stream of…” beliebig erweitern lässt. Wie wäre es zum Beispiel mit einem “stream of things”? Kann man nicht auch die Gegenstände, die uns umgeben, die Dinge, mit deren Hilfe wir unser Leben führen, die wir kaufen, nutzen und verschenken oder wegwerfen, als Strom ansehen? Ströme können sich stauen. So, wie Wassermassen im Frühjahr die Flussauen auf dem Land und auch so manche Altstadt überschwemmen, werden auch vollgestopfte Dachböden, Wohnzimmerschränke und Kellerabteile von aufgestauten Dingen überschwemmt, die irgendwie “zu viel” sind. Und so, wie das Wasser wieder abfließt, wenn man Dämme öffnet, verlassen uns auch so manche Gegenstände wieder.

Gegenstände sind die Träger des Lebens, das wir führen. Sag mir, was Du hast, und ich sage Dir, wer Du bist. Oder, um genauer zu sein: sag mir, was Du hast, und Du sagst mir, wie Du lebst. Stockt unser Leben, dann stockt auch der Strom der Dinge, die unsere Handlungen möglich machen. Und wollen wir anders handeln, brauchen wir oft auch andere Gegenstände, mit denen das geht. Und alte, in diesem Sinne nutzlos gewordene Gegenstände können wir loslassen.

… wenn wir das denn können. Loslassen heißt ja auch, dass man Abschied nimmt von etwas, was war, was vielleicht einmal wichtig und gut für uns war. Leben im hier und jetzt, den Brennpunkt des Augenblicks genießen… das alles heißt demnach immer auch: wenig besitzen. Nur das, was jetzt wirklich notwendig ist (*). Haben das nicht alle Religionen von alters her schon gesagt? Ist dies nicht der selbe Gedanke, den Erich Fromm in seinem Buch Haben oder Sein entfaltet? Schlank leben. Klingt doch einfach und gut, oder?

 

(*) Im Grunde genommen müsste es deshalb auch bei Facebook und Co konsequent die Notwendigkeit geben, Dinge auszusortieren, zu löschen, wegzuwerfen, zu verschenken. Und das geht nur über Begrenzung. Theoretisch kann man ja alles jederzeit löschen, aber bei quasi unendlichem Speicherplatz macht das kein Mensch, einfach aus Faulheit.

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