Focusing und erlebensbezogenes Denken (thinking at the edge / TAE) haben die gleichen Wurzeln, nämlich Gendlins Prozessphilosophie und den personzentrierten Ansatz nach Carl Rogers. Aber es sind doch verschiedene Methoden mit verschiedenen Intentionen und mit verschiedenen Zielen. Während es im Focusing primär meist darum geht, erlebensorientiert an persönlichen Problemen (Lebensentscheidungen, Aufgaben, Herausforderungen,…) zu arbeiten, ist TAE eine Methode, die die sprachliche Ausarbeitung von inhaltlichen Themen in den Fokus nimmt, die nicht unbedingt mit persönlichem Leid oder psychischer “Not” verknüpft sind. Im TAE geht es einfach nur darum, die eigene Erfahrung, das eigene vage Erleben, in stimmige, treffende Sätze zu überführen. Focusing als Methode der Lebensbewältigung findet deshalb vor allem Anwendung in beraterischen und therapeutischen Kontexten, TAE hingegen beispielsweise in der Wissenschaft (Theoriebildung) oder bei der Arbeitung eines präzisen beruflichen Profiltexts für eine Website.
Dennoch ist es möglich, auch TAE-orientierte Sequenzen in Beratungs- oder Therapiegesprächen einzubetten. Das ist immer dann der Fall, wenn man einen Schritt zurücktritt, wenn die Zielstellung nicht mehr spezifisch ist (d.h. konkrete praktische Lösungswege für ein konkretes Problem zu entwickeln), sondern wenn eine allgemeine Haltung entwickelt und ausformuliert werden soll, um mit einer bestimmten Klasse von Problemen umzugehen.
Wie ist das umsetzbar? Konkret kann man zum Beispiel in einem focusing- und personzentriert geführten Beratungsgespräch die wichtigsten Potenzialworte, die im Laufe des Gesprächs auftauchen, mitprotokollieren. Das sind Worte, bei denen Berater und Klient einen “aufgeladenen” Bedeutungshof verspüren, Worte, die sich vielleicht wiederholen oder auch Worte, die spontan auftauchen und mit einem körperlich erlebbaren Energiezustrom oder einem Gefühl der Erleichterung (Atemzug; “Felt Shift”) einhergehen.
Ist einmal eine solche kleine Liste von Potenzialworten erstellt, so wird es möglich, TAE-orientiert einzelne, vielleicht besonders spannungsgeladene oder gegensätzliche Begriffe herauszugreifen und sie zu kreuzen. Das meint: Halte beide Begriffe zugleich in der Aufmerkamkeit. Dann frag Dich:
- “Durch die Brille von A betrachtet – was erkennst Du in B?” oder
- “Was ist das Wesen von A, so dass es (irgendwie) zugleich auch B ist?” oder
- “Was ist die inhärente (verborgene, implizite, gefühlte, …) Verbindung von A und B?”
Diese Fragen können helfen, in die Tiefenstrukturen des Themas einzudringen. Sie machen das sichtbar, was zwischen den Zeilen schwingt, sie integrieren Gegensätze (These / Antithese) und tragen das gefühlte Ganze im Sinne einer dialektischen Synthese sprachlich voran.
Der große Vorteil TAE-orientierten Arbeitens ist es, dass wir hier ein Werkzeug finden, um auch in Therapie- oder Beratungsgesprächen die “volle Power” des Intellekts nutzen zu können. Besonders Menschen, die es in ihrem Alltag gewohnt sind, “im Kopf zu sein”, haben oftmals Schwierigkeiten damit, sich auf rein körperorientierte Interventionen einzulassen. TAE bietet hier ein breites Repertoire an Möglichkeiten. Es werden zwar keine konkreten Ideen hervorgebracht, aber hilft doch dabei, eine persönliche Haltung zu erarbeiten, die im Dschungel des Alltags eine Richtung und Orientierung bietet, um mit diesem Typ oder dieser Klasse von Problemen umzugehen.
Konkret lautet die Unterscheidungsformel: Im Konkreten arbeite focusingorientiert, im Abstrakten handle TAE-orientiert. Beide Seiten sind hilfreich und notwendig. Sprachliche Abstraktion ist auch in beraterischen Settings nichts, was zu vermeiden wäre, sondern eine Ressource, die wir nutzen können. TAE stellt somit für die beraterische und therapeutische Arbeit mit besonders rationalen Menschen eine sinnvolle und sehr wirkkräftige Ergänzung dar.
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