Gendlin schrieb 1983, zusammen mit dem Physiker J. Lemke, einen Artikel über Raum und Zeit. Einer der wichtigsten Gedanken darin: Raum und Zeit sind lediglich Konzepte, innerhalb derer wir denken. Wir legen ein Raum-Zeit-Raster über alles und meinen dann, dies sei die Realität und wir würden in einem real existierenden vierdimensionalen Universum leben. Dabei ist das gar nicht so einfach. Denn es gibt in der Physik immer an den Stellen Probleme, an denen dieses Raum-Zeit-Konzept, das uns Menschen der westlichen Welt alltäglich geworden ist, mit Interaktionen von subjektiven Individuen kollidiert. Auch Einsteins Ideen ändern hieran nichts. Einsteins Gedanke war ja: es ist egal, ob der Zug fährt oder ob sich die Landschaft bewegt. Bewegung und damit auch die Zeit, die wir über Bewegung, etwa das Fortschreiten der Zeiger einer Uhr, definieren können, sei relativ.
Gendlins und Lemkes Gegenargument: natürlich wissen wir, dass der Zug sich bewegt und nicht die Landschaft. Wir wissen es, sobald wir selbst darin sitzen. Denn dann interagieren wir selbst. Einsteins Relativität gilt nur dann, wenn wir selbst uns ausklammern und so tun, als existierten wir gar nicht. Indem wir beispielsweise Uhrzeigerstellungen (also räumliche Positionen) miteinander vergleichen, klammern wir unsere eigene Subjektivität aus. Das sogenannte Objektive, was dabei übrig bleibt, halten wir für die reale Zeit. Wir vergessen, dass wir selbst es sind, die diese Vergleiche anstellen. Die Autoren halten fest: “Relativity would be viewed as having taken a first step in recognizing that space-time point systems are a function of a comparer. The second step would be to recognize that actual interactions are superior to would-be interactions (such as comparisons and places and times of possible interactions).”
Eine dieser realen “actual interactions” habe ich gestern selbst erlebt. In einer Performance des Hobbit Theaters Würzburg, abgehalten zum Geburtstag von John Cage, wurde in einem großen gewölbten Kellerraum das Thema “Zeit” anschaulich dargestellt. In Cages Kunstwerken und Musikstücken entsteht die Raster-Zeit dadurch, dass wir uns darauf einigen, Jetzt und Dann zu definieren. Etwa das Verstreichen von 40 Minuten. Diese wurden gestern abend unterteilt in ein Raster von 4×10 Minuten. Alles, was zwischendrinnen passierte, war dann nicht mehr der rasterhaften Zeit unterworfen. Es war prozesshaft-lebendig und entsprach damit dem, was bereits vor der Definition von gerasterten Zeit-Räumen existiert. Solche Prozesse haben eine eigene Zeit. Zum Beispiel: Ein Mensch steigt auf eine Leiter und macht Seifenblasen. Ein anderer Mensch macht immer wieder das Sonnengebet, eine Yogaübung. Da gibt es kein Raster. Der lebendige Prozess entfaltet sich nach seinem eigenen, ihm selbst innewohnenden Zeitempfinden.
Dennoch ist es wichtig, diesen Prozess zu begrenzen. Petra Blume, eine der beiden Darstellerinnen, drückte es nach der Performance so aus: “Ich brauche ein Anfang und ein Ende. Denn Kunst geht immer weiter und ich wüsste gar nicht, wo ich aufhören soll.” Es ist hilfreich, dass wir Menschen uns Raster setzen, da wir sonst ins Schwimmen kommen. Wie künstlich diese Raster tatsächlich sind, wurde mir klar, als die Künstlerin davon sprach, dass es doch schon vor den Menschen Prozesse gab, die abliefen. Was ich verstanden habe, war dies: Das Universum enstand, Pflanzen und Tiere entwickelten sich im Laufe der Evolution, und erst in den letzten Minuten des Evolutionsjahres kam der Mensch daher, der ein Raster auf alles legte. Was jedoch war vorher da? Gab es da schon Zeit?
Offenbar nicht, wenn wir die Gedanken von Gendlin und Lemke ernst nehmen. Und selbst Immanuel Kant sagte schon, dass Raum und Zeit lediglich Anschauungsformen sind, die wir in Momenten der Erkenntnis a priori über alles legen. Was also war mit der Zeit, bevor es den rastererzeugenden Menschen gab? Ich kann das (momentan) nicht beantworten, aber die Frage selbst macht mich staunend.
Hallo Tony,
ohne jetzt da tief einzusteigen fällt mir ein: wer ausser dem Menschen kennt Vernunft? Hat nicht dies auch mit dem Zeitraster zu tun?
Das Leben fließt, auch mit Regelmäßigkeiten wie die Jahreszeiten, Mondphasen usw. Das passiert einfach aus bestimmten Gesetzmäßigkeiten heraus und danach richten sich auch andre Lebewesen in ihrem Rhythmus des Wachsens, Fressens usw. Das aber hat nichts mit dem Zeitgefühl zu tun wie wir es kennen. Ich glaube nicht dass je ein Tier, auch kein Schimpanse dachte: oh ich habe zu wenig Zeit.
Für mich ist das Problem, das Menschen mit der Zeit haben, ein Kopf- und Vernunftproblem, das aber weite Kreise zieht in unserem Leben. So wie wir uns eingerichtet haben, geht es nicht mehr ohne und es ist auch sinnvoll. Gleichzeitig sind wir Sklave davon geworden.
Für mich ist Zeit etwas geschaffenes vom Menschen, nur von und für uns. Das Universum lebt auch ohne Uhr und geht genauestens seinen Weg.
Es ist aber so, wenn man bei Meditation oder anderen Übungen ins reine Bewusstsein kommt, gibt es “Zeit” nicht mehr. Und warum wohl fühlen wir uns danach so entspannt?
Doro