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Facebook und die Grenze des grauen Breis

Wir leben in der Zeit der Postmoderne. Postmoderne heißt, dass wir aus moralischer Sicht nahezu alles tun können, was wir wollen, wenn wir es denn gut begründen. Es gibt in der Lebensführung kein absolutes Richtig oder Falsch. Es gibt keine übergeordneten Autoritäten, die uns einen Rahmen geben, an dem wir uns orientieren können. Die Religion hat schon seit Jahrhunderten ausgedient, und menschliche Autoritäten sind grundsätzlich hinterfragbar und unvollkommen. Natürlich orientieren wir uns an menschengemachten Werten, die sich bewährt haben. Dennoch sind auch diese Werte nicht dauerhaft gültig. Alles beibt relativ und die schiere Anzahl der Möglichkeiten, wie wir unser Leben gestalten können, verschwimmt zu einem grauen Brei. Die Grenze des grauen Breis ist die Grenze der Postmoderne.

Was also tun, liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie gerade mitten im grauen Brei schwimmen und im Leben die Orientierung verloren haben? Vielleicht spüren Sie dann, wie existentiell Sie auf sich selbst zurückgeworfen sind. Gerade in Krisenzeiten wird dies deutlich. Was brauchen Sie, um inmitten der Millionen von Möglichkeiten gute Entscheidungen zu treffen? Natürlich benötigen Sie Wissen: finden Sie so viel heraus, wie Sie können. Recherchieren Sie im Internet, bis die Maus qualmt. Stürmen Sie Bibliotheken und Buchhandlungen. Reden Sie mit Leuten, die sich auskennen. Das sind erste gute Schritte. Aber Wissen alleine reicht nicht. Denn das Wissen, das Ihnen theoretisch zur Verfügung steht, ist so unüberschaubar, dass sich kein Mensch darin zurecht findet. Genauso und in zunehmendem Maße brauchen Sie deshalb Flexibilität, Kreativität und Anpassungsfähigkeit. Sie brauchen Intuition und Gespür, und ein feines Sensorium für das, was wichtig ist und für das, was Sie getrost aussortieren können.

Ich glaube, dass Menschen auch in Zeiten der Postmoderne in der Lage sind, die Herausforderungen, die sich ihnen stellen, zu meistern. Der graue Brei wird zu einer Suppe mit nahrhaften Bestandteilen, aus der man auswählen kann, was zu einem bestimmten Zeitpunkt optimal ist, wenn wir selbst spüren, was für uns und für die Situation richtig und stimmig ist. Damit wird das Projekt der Moderne, das in der Renaissance begann, erst jetzt, nach 300 Jahren, zu Ende geführt. Kants “Sapere aude!” (“Wage, zu denken!”) wird ergänzt durch: “Sapere sentire!” – “Spüre selbst und entscheide dann!” Nutze deine Intuition, vertraue deinem Gespür und löse die Aufgaben, die anstehen.

Social Networks wie etwa Facebook helfen uns dabei, uns intuitiv im Leben zu orientieren. Sie bieten uns zwar keinen moralischen, dafür aber einen technischen Rahmen, und erfüllen dabei eine wichtige existentielle Funktion. Im virtuellen Kontakt zu unseren Freunden zeigen wir einander, was sich für uns gut anfühlt. Wir bekennen Farbe. Was wir einmal bei Facebook gepostet haben, zählt. Das kann alles mögliche sein, aber es ist nicht beliebig – wir können Musikstücke teilen, Kunst, kleine Gedankenschnipselchen, Zeitschriftenartikel, die uns interessieren oder Youtube-Videos, die uns ansprechen und berühren. In all dem skizzieren wir, Stückchen für Stückchen, unseren ganz persönlichen roten Faden, der zu unser individuellen Lebenslinie wird. Indem wir den Like-Button anklicken, schaffen wir existentielle Orientierung im Leben.

So einfach ist das. Oder nicht? Ist Facebook der Dampfer, der uns durch den grauen Nebelbrei der Postmoderne in die nahrhafte Suppe der Postpostmoderne führt? Nun ja, auch gute Metaphern haben ihre Grenzen. Schiff ahoi!

3 Comments

  1. stefanie anrig stefanie anrig 24. Februar 2013

    Lieber Toni da bin ich mal wieder auf deine webseite gestossen und lese gute, schöne Dinge die mich bereichern…. und da kommt plötzlich ein Satz, der mir so quer im Magen liegt, dass ich dir das sagen muss. “Social Networks wie etwa Facebook helfen uns dabei, uns intuitiv im Leben zu orientieren.” Ich glaube kaum dass eine Veröffentlichung unserer intimsten Gedanken und Gefühle dazu beitragen eine individuelle Lebenslinie zu finden. Ich glaube dass das Gegenteil der Fall ist. Je weniger von unseren Gedanken und Gefühlen intim und persönlich bleiben, desto mehr schwimmen wir in der Masse, im grauen Brei, und haben noch mehr Mühe unseren individuellen Weg zu finden. Zu einer nahrhaften Suppe kann nur werden was in uns geboren und geschützt wird und nicht was mit Glitzer und Glimmer in eine Scheinwelt getragen wird. Ich wünsche dir eine freudige Zeit und grüsse dich lieb. Stefanie

  2. stefanie anrig stefanie anrig 25. Februar 2013

    NACHTRAG:
    nochmals ich, lieber Toni. Mir ist auch klar dass wir, um unsere Persönlichkeit zu bilden, das DU brauchen. Die Begegnung mit dem anderen Menschen. Martin Buber sagt:” Der Mensch wird am Du zum Ich”. Damit hat er wohl nicht die virtuelle Scheinwelt gemeint sondern WIRKLICHE Begegnungen. Die Begegnungen mit dir haben mich befruchtet und ein kleines Stück neues ICH ist dabei geboren. Dafür danke ich dir von Herzen.
    Liebes von Stefanie

  3. Petra Bergermann Petra Bergermann 26. März 2013

    Lieber Tony,

    also das mit Facebook sehe ich als ältere Person etwas anders: für mich ist das keine Gelegenheit oder Örtlichkeit zur Neu-Orientierung, denn ich benehme mich dort wie auch im “wirklichen Leben”: Ich kontaktiere, “like”, abonniere und konsumiere die Sachen, die mir sowieso gefallen. Ich verstärke also die Präferenzen, die ich sowieso habe. Ich kaufe ja auch keine Zeitung (zB BILD), die meinen Meinungen überhaupt nicht entspricht. Das habe ich irgendwann entschieden und bleibe dabei. Genauso ist es mit Beiträgen, die ich (mangels entsprechender Ausbildung) nicht verstehe. Die blende ich auch aus.

    Wo ich vom Internet profitiere ist ein ganz anderer Ort: “Die Stützen der Gesellschaft” des “Don Alphonso” (eigentlich ein FAZ-Blog) http://stuetzendergesellschaft.wordpress.com/

    Da sind es die Diskussionen der sehr lebhaften Kommentaristen, durchwegs gebildete und kluge Leute mit höchst unterschiedlichen Ansichten und Informationsständen aber von großer Beredsamkeit sind. Deren Beiträge, oft mit Links, verführen oft zu eigener Recherche und weiterer Orientierung.

    Facebook versucht mir allerlei Spielteilnahmen und anderen Unsinn aufzunötigen. Vielleicht gibt es bald einmal etwas anderes, besseres, ohne diesen blöden Kommerzkram.

    Schon mancher Internet-König wurde rasch entthront. Warum sollte das nicht auch die aktuellen Datenkraken treffen…

    Viele Grüße,
    Petra Bergermann

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