Ein Rhythmus ergibt sich immer da, wo Prozesse gestoppt sind – ein Ereignis kommt dazwischen und das, was eigentlich impliziert wäre, kann dann nicht so geschehen, wie es eigentlich “vorgesehen” war. Der Prozess ändert in so einer Situation manchmal seinen “Modus”, er geht über in eine offene Suchbewegung. Diese Suchbewegung ist beschreibbar als ein Pulsieren, ein Sich-Vorantasten, eine Art von “Trial-and-Error”. Dieses Tasten erfolgt repetetiv immer wieder gleich, und immer wieder ein bisschen anders, in immer neuen Variationen:
"Die Natur demonstriert ständig an vielen Beispielen, wie sich ähnliche Stückchen immer wieder wiederholen, aber nie ganz gleich. Es gibt den Herzschlag, das Augenzwinkern, die Nerven-Impulse. [Man findet es] in den Hautporen, in den Haaren, in den Blättern der Bäume. Ich möchte ein Ereignis, das dazwischenkommt, zu einem Verb machen und es »leafing« (blättern) nennen." (Gendlin, 2015, 172)
Ein gestoppter Prozess fühlt sich normalerweise nicht sonderlich gut an. Wenn wir im Leben in Sackgassen oder in Krisen geraten, ist das einfach nichts, was man genießen kann. Neues wird jedoch oft aus der Not geboren. Spannend daran ist, auf welche Weise die “versuchenden Rhythmen”, die in der Not geboren werden, die prozesshafte Basis dafür bilden können, dass etwas qualitiativ Neues geschehen kann, das von völlig neuer Art ist, als das Bisherige.
Denn Rhythmen erzeugen eine besondere Art von “dynamischer” Stabilität:
"Durch das »Leafing« bleibt der Organismus im Bereich des Stopps. Er bleibt an der Stelle und unter den Bedingungen des Stopps. Wenn der Prozess nicht gestoppt hätte, wäre er an dieser Stelle nur für einen Moment geblieben. Nun könnten sich mit der Umgebung neue Geschehnisse formieren, die sich vor dem Stopp nicht hätten bilden können." (ebd., 176)
Statische Stabilität als Gegensatz dazu ist meist wenig hilfreich. Sie ist nicht lebendig – wie eine undurchdringliche Mauer. Rhythmische Stabilität hingegen kann eine kleine Tür öffnen, durch die ein Weg entstehen kann. Die Improvisation, die diesen Weg generiert, braucht den stabilen Rhythmus im Hintergrund.
Viele passende Beispiele finden wir in der Musik. In dem Song von Enigma “I love you … I’ll kill you” beispielsweise (siehe unten) taucht der entscheidende Phasenübergang, der etwas adaptiv-Neues schafft (eine qualitativ neue Ebene), ab der Stelle 4:59 auf. Der stabile Rhythmus im Hintergrund ist gleichbleibend da, und erst auf diesem Rhythmus wird es möglich, improvisierend den “Schmerz der Einsamkeit” auszudrücken, der zugleich wie ein “Riss” ist, der die Öffnung und das qualitativ-Neue spürbar werden lässt.
Besonders hilfreich ist es, den “Abfall”, der von der Norm abweicht, wertzuschätzen, der am Rande von Rhythmen erscheint und der uns zunächst unwichtig vorkommt – er ist für die Entwicklung von adaptiv-Neuem das Essenzielle, was vom Rhythmus “ab-fällt” oder “ab-weicht” und damit Strukturen bereitstellt, deren Beachtung grundsätzlich lohnenswert sein kann.
Dass die Wertschätzung von scheinbarem “Abfall” wichtig sein kann, wissen wir ebenfalls aus der Musik. Die eigene Stimme, wie sie eben ist, erzeugt “aus sich heraus” Klänge, die interessant sind. Gisela Farenholtz beschreibt dies in ihrer Arbeit im Kieler Impro-Chor so:
"Besonders, wenn ich die Menschen ermutige, von ihrer eigenen Stimme auszugehen statt von einem vorgegebenen Klangmuster, ergeben sich leuchtende Cluster, samtige Klangteppiche oder zarte Geräuschstrukturen. Solche Klänge habe ich schon immer geliebt und nun Mut gefasst, um ihnen im ImproChor nachzulauschen." (S. 61)
Der stabile Rhythmus, die Improvisation, die auf diesem Rhythmus möglich wird, und die Wertschätzung von scheinbarem “Ab-fall” als inhaltliche Basis der Improvisation, bilden in ihrem Zusammenspiel das Wesen von adaptiver Veränderung. Der Prozess läuft so in eine kreative Offenheit hinein, die mehr möglich macht, als zuvor.
Literatur:
Gendlin, Eugene T. (2015): Ein Prozess-Modell. Freiburg [u.a.]: Alber.
Farenholtz, G. (2017): Über den improChor Kiel und das Konzept, das ihn trägt. Improfil 80, 12/2017
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