“Es muss also so etwas wie eine moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt geben.” (12)
“Ambiguität ist nur schwer und nie restlos zu beseitigen, ganz einfach aus dem Grund, weil es eine Welt ohne Ambiguität gar nicht geben kann. Es ist aber auch nicht einfach, einen Zustand der Ambiguität aufrechtzuerhalten, weil Menschen ihrer Natur nach nur beschränkt ambiguitätstolerant sind und eher danach streben, einen Zustand der Eindeutigkeit herzustellen, als Vieldeutigkeit auf Dauer zu ertragen. Ein Zustand der Ambiguität ist mithin ein labiler. Bricht er zusammen, entsteht jedoch nicht zwangsläufig und sofort ein Zustand der Eindeutigkeit, weil nämlich sofort neue Ambiguitäten aufbrechen.” (16)
“In unserer heutigen Welt scheint mir vor allem eine zu geringe Ambiguitätstoleranz das Problem zu sein.” (16)
“Nihil esse respondendum. – ‘Es soll keine Antwort gegeben werden.’ Nihil esse respondendum wurde also ‘zu einer vielfach verwendeten Formel, wenn sich das Heilige Offizium mit dubia [Zweifeln] konfrontiert sah, bei denen sich ein tiefer Graben zwischen Prinzipien der nachtridentinischen Kirche, von denen die Kongregation nicht abrücken wollte, und den Zwängen der lokalen Verhältnisse eröffnete’. Anstatt die Anfrage einfach zu verschleppen, fasste man also einen formalen Beschluss – der darin bestand, zu beschließen, nichts zu beschließen – ein virtuoses Ambiguitätskunststück, das uns heute mit unserer weniger ambiguitätstoleranten Mentalität kaum mehr einleuchten kann.” (23)
“Meine These lautet nun, dass unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist. In vielen Lebensbereichen – nicht nur in der Religion – erscheinen deshalb Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen. Diese gelten ihren Anhängern und Jüngern als besonders zeitgemäß und fortschrittlich und haben vielfach die Diskurshoheit in ihrem jeweiligen Feld erobert. Demgegenüber wird Vielfalt, Komplexität und Pluralität häufig nicht mehr als Bereicherung empfunden. Diese Entwicklung führt zu dem, was im Titel dieses Essays als Vereindeutigung der Welt bezeichnet wird: ein Weniger an Bedeutungen, an Ambiguität und an Vielfalt in allen Lebensbereichen.” (30)
Zwei Arten, Ambiguitäten auszuweichen:
a) Fundamentalismus (Ideologie, Dogma)
b) Gleichgültigkeit (Beliebigkeit)
(30)
“Das Beunruhigende ist nun, dass einerseits traditionelle Religiosität eher abnimmt, während fundamentalistische und politisierte Formen der Religion vielfach zunehmen, und dies oft gerade dort, wo die traditionelle Religiosität zurückgeht.” (33)
“Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte all jene vollständig ambiguitätsintoleranten Ideologien hervor, die schließlich das 20. Jahrhundert zum blutigsten der Weltgeschichte werden ließen.” (37)
“Endlos viel Bedeutung führt zu Bedeutungslosigkeit. Bedeutungslosigkeit ist ebenso wenig vieldeutig wie nur eine einzige Bedeutung. […] Es kommt auf das rechte Maß an.” (50)
“Am passendsten war, dass mit dem Abstrakten Expressionismus eine Kunstrichtung gefunden war, die zwar als progressiv und kritisch galt, weil sie auf Widerspruch stieß, deren Kunstwerke jedoch als solche nichts bedeuteten. […] völlig kapitalismuskompatible bunte Bilder […]”. (53)
“‘Effekt wird zum Inhalt, er ersetzt die Substanz.’ Mit diesen Worten fasste Greenberg 1989 das Wesen des Kitsches zusammen […].” (58)
“Der Authentizitätsdiskurs sieht davon ab, dass Menschen in der Gesellschaft immer in verschiedenen Rollen agieren, die situationsbedingt wechseln, in denen die Menschen keineswegs immer auf dieselben Fragen dieselben Antworten geben und auf ähnliche Stimuli mit denselben Emotionen reagieren. Das Authentizizätsmodell legt demgegenüber nahe, dass es jenseits dieser Rollen ein wahres Selbst gibt und dass es erstrebenswert ist, dieses wahre Selbst möglichst ungefiltert auszuleben.” (67)
“Allerdings läuft dieses wahre Selbst […] auf ein Selbst als Konsument hinaus, auf den Menschen, der gerade dann er selbst ist, wenn er das konsumiert, was seinen ‘authentischen Bedürfnissen’ entspricht und ihm damit zu seiner Identität verhilft […]”. (68)
Ambiguitätserhaltungsgesetz: “Je mehr Energie für die Beseitigung von Ambiguität aufgewendet wird, desto mehr Ambiguität entsteht im Verhältnis zur jeweils beseitigten Ambiguität.” (76)
“Der Versuch, Eindeutigkeit in einer uneindeutigen Welt wenigstens dadurch herzustellen, dass man die Vielfalt in der Welt möglichst präzise in Kästchen einsortiert, innerhalb derer größtmögliche Eindeutigkeit herrscht, ist eher dazu geeignet, Vielfalt zu verdrängen als sie zu fördern.” (81) (Bezug zu Diagnostik!)
“Wenn Maschinen über Wahrheit entscheiden, kann man endgültig ambiguitätsfrei in Gleichgültigkeit dahinleben.” (93)
“Ideal ist der schwitzende, authentische, ambiguitätsfreie Maschinenmensch, der selbstoptimiert im kapitalistischen Verwertungsprozess effektiv funktioniert.” (94)
“Man könnte dabei von vormodernen Gesellschaften lernen, in denen über lange Zeit eine sehr ambiguitätstolerante Mentalität herrschte. Dort wurde Ambiguität nicht nur geschätzt und gepflegt, sondern regelrecht eingeübt, fand sozusagen ein ständiges ‘Ambiguitätstraining’ statt. Vorrangige Trainingsfelder sind jene Bereiche, die sich traditionell durch große Ambiguität auszeichnen, als Kunst, Musik, Literatur und Verwandtes.” (96)
[…] an die man sich halten kann. Sie ist damit fest in der Moderne verhaftet und weigert sich, die Ambiguitäten der Postmoderne […]