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Brief an meine Studierenden

Ich bin kein Lehrer. Ich kann euch nicht sagen, was richtig und was falsch ist. Denn das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wie man Dinge machen sollte, damit sie sicher funktionieren. Ich kenne in dem Feld, in dem ich Dozent bin, keine hundertprozentigen, immer verlässlichen Methoden oder Prinzipien. Diese Dinge sind immer relativ, und glaubt mir, wenn ich eine hundertprozentig verlässliche Methode kennen würde, wäre ich der erste, der sie euch vermitteln würde.

Was ich tun kann, ist, euch Vorschläge zu machen, die ihr ausprobieren könnt. Ich kann euch Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Ihr müsst dies alles selbst erproben, es euch zu Eigen machen, es verwerfen, abändern, verbessern, anpassen an eure konkrete Situation. Das ist ein handwerklicher, ein kreativer und manchmal sogar ein künstlerischer Vorgang. Studieren heißt, ein eigenes berufliches Profil zu entwickeln. Und berufliche Profilbildung heißt immer, mehr die eigenen Ideen auszuarbeiten und nicht so sehr, die Ideen von anderen Menschen zu übernehmen. Ich glaube, anders geht es nicht.

Ich kann euch auch nicht restlos erklären, warum die Dinge so sind, wie sie sind und nicht anders. Ich kann eure Fragen nicht vollständig beantworten und ich werde das nie können. Selbst wenn ich mich auch noch so anstrenge, noch so viel lese. Ich kann euch lediglich meine eigenen, skizzenhaften Gedanken schenken. Und ich kann euch wissenschaftliche Modelle vorstellen – nicht, um auf diese Weise Wahrheit zu kommunizieren, sondern damit euer Denken Futter bekommt, so dass ihr mit diesen Bausteinen eure eigenen Wahrheiten, eure eigenen Modelle (er)finden könnt. Ich glaube, jeder Mensch braucht in einer komplexen Berufspraxis sein eigenes, ein maßgeschneidertes Denkmodell, damit sein Handeln gelingen kann. Es gibt in komplexen beruflichen Situationen ab einem gewissen Grad von Komplexität keine allgemeinen Standards mehr, die gelten.

Ich kann euch Wahrnehmungs-, Handlungs- und Kommunikations-Experimente vorschlagen, die, zugegeben, oft recht unkonventionell sind. Manchmal bin ich damit ein bisschen vorschnell und habe euch vielleicht manchmal auch etwas überrumpelt. Falls das so sein sollte, so tut mir das leid. Ich bin mir jedoch innerlich sehr sicher, dass die meisten meiner Experimente gute Wege sind, um sehr schnell und effektiv Wesentliches zu lernen – schneller und punktgenauer, als es durch das reine Nadelöhr des Denkens jemals möglich wäre. Was ich mit euch gerade lerne, ist dies: Hier ist noch viel mehr Achtsamkeit nötig. Ich möchte noch mehr darauf achten, euch vorab alles genau zu erläutern, was ich vorhabe, damit ihr euch frei entscheiden könnt, worauf ihr euch einlassen wollt und worauf nicht. 

Denn das Wichtigste, was ich euch beibringen kann, ist Autonomie und berufliche Selbstverantwortung. Dies lässt sich aber nicht vermitteln, indem ich euch trockene Texte über Autonomie und Selbstverantwortung lesen lasse, sondern indem ich euch einen lebendigen, atmenden Spielraum anbiete, in dem sie sich „live“ entfalten kann. Deswegen freue ich mich wie ein Schneekönig, wenn jemand von euch sich entscheidet, bei einer Übung nicht mitzumachen oder einen anderen Text zu lesen als den, den ich angebe, oder Fragen, die ich stelle, abzuwandeln, oder aus dem Raum zu gehen und eine Pause zu machen statt weiter zu folgen.

Ich freue mich, wenn ihr mich mit Fragen löchert, aber auch, wenn ihr Abstand haltet und euch mit verschränkten Armen in die hinterste Reihe setzt, weil ihr skeptisch seid. Eure Skepsis ist meine Reibungsfläche. Ich habe Angst vor ihr und zugleich suche, ersehne und brauche ich sie auch. Durch eure Skepsis kann ich lernen, wo die Grenzen meines bisherigen Denkens, die Grenzen meiner eigenen unreflektierten Schemata liegen. Meine Bitte wäre, das, was die Skepsis in euch hervorbringt, freundlich in Kommunikation zu geben. Ich möchte Räume schaffen, in der sie sich voll entfalten kann, so dass alle etwas davon haben. Lasst uns an ihr entlang hangelnd gemeinsam weiterdenken, die Fäden aufgreifen und weiterspinnen, lasst uns spielerisch das vorantragen, was sich in der Erfahrung meiner eigenen Lehrerinnen und Lehrer verdichtet hatte, was ich von ihnen übernommen habe. Lasst uns dazu in harte Konfrontation gehen oder lasst es uns feiern – beides ist kostbar. 

Wir sind alle kleine, dünne Fäden in den großen Netzen des Lebens und des Denkens und wir können unsere eigenen Farben hineinweben. Lehren und Lernen ist dasselbe; es ist ein einziger Prozess, der vielfarbige, vielschichtige gedankliche Netze webt. Er hat seinen eigenen Zauber, den wir selbst kreieren. Wir können ihn ersticken oder wir können gemeinsam dafür sorgen, dass er so richtig erblüht. Es liegt allein in unserer Hand. 

Euer Tony

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